Nach einigen Stunden erwachte Cugel, lauschte überrascht und vernahm Musik. Er richtete sich auf, sah übers Meer und erblickte voller Verwunderung eine geisterhafte Stadt. Schmale Türme ragten in die Höhe, erhellt von sonderbaren Lichtflecken, die langsam hochstiegen und dann wieder herabsanken. Auf den Promenaden wandelten seltsame Gestalten: Sie trugen schimmernde Gewänder und bliesen in Hörner, woraufhin zarte Melodien erklangen. Ein großes Schiff trieb majestätisch vorbei, und die sanfte Brise blähte ein gewaltiges Segel aus bestickter Seide auf. Der Schein von an den Bug-und Heckspriten hängenden Laternen fiel auf ein Deck, auf dem sich Dutzende und Hunderte von Feiernden eingefunden hatten. Einige sangen und spielten auf Lauten, andere tranken Wein aus goldenen Bechern.
Cugel sehnte sich danach, ihre Freude zu teilen. Er stemmte sich in die Höhe und rief laut. Die Feiernden ließen die Musikinstrumente sinken und sahen in seine Richtung, doch das Schiff trieb weiter, und das große blaue Segel knarrte leise. Kurz darauf verschwammen die Konturen der Stadt, und die Türme und Promenaden lösten sich auf und wichen einem schwarzen Nachthimmel.
Cugel starrte in die Finsternis, und tief in ihm regte sich ein Kummer, wie er ihn in diesem Ausmaß noch nie zuvor empfunden hatte. Nach einer Weile begriff er überrascht, daß er an der Wassergrenze stand, und Subucule, Garstang und Casmyre leisteten ihm Gesellschaft. Sie alle blickten in die Dunkelheit, doch niemand sagte ein Wort. Schließlich wandten sie sich vom Meer ab, kehrten auf den Strand zurück und legten sich erneut schlafen.
Im Verlauf des nächsten Tages sprachen sie nur wenig miteinander, und sie gingen sich sogar aus dem Weg. Keiner von ihnen schien in seinen Grübeleien gestört werden zu wollen. Von Zeit zu Zeit blickten sie nachdenklich nach Süden, doch niemand machte Anstalten, die Reise fortzusetzen.
Der Tag verstrich, während die Pilger lethargisch im Sand ruhten. Die Sonne ging unter, und es wurde dunkel, doch niemand legte sich schlafen.
Einige Stunden später erschien wieder die Geisterstadt, und in dieser Nacht ging es auf den Promenaden noch fröhlicher und ausgelassener zu. Kleine Raketen rasten in den Himmel, und als sie explodierten, entstanden prächtige Feuerblumen am Firmament, dichte bunte Muster, Blüten aus silbernem und goldenem Glanz. Durch eine besonders breite Straße zog die Kolonne einer festlichen Prozession, und die phantomhaften jungen Mädchen trugen glitzernde Kleider. Ihnen folgten Musikanten in funkelnden roten und orangefarbenen Roben, und hinter ihnen tanzten und tollten Harlekine. Stundenlang hallten Musik und Gesang durch die Nacht, und Cugel trat knietief ins Wasser und sah so lange zu, bis das Fest zu Ende ging und die Stadt verschwand. Als er sich umdrehte, folgten ihm die Pilger zurück auf den Strand.
Am nächsten Tag waren sie infolge von Hunger und Durst geschwächt. Cugel schlug krächzend vor, den Weg fortzusetzen. Garstang nickte und sagte heiser: »Zum Tempel, zum Tempel Gilfigs!«
Subucule vollführte eine zustimmende Geste. Die Wangen seines einstmals so vollen Gesichts waren eingefallen, und der Blick seiner Augen hatte sich getrübt. »Ja«, stöhnte er. »Wir haben uns lange genug ausgeruht. Jetzt müssen wir weiter!«
Und auch Casmyre nickte. »Zum Tempel!«
Doch niemand von ihnen machte Anstalten, nach Süden zu gehen. Cugel wandte sich vom Strand ab, erkletterte eine Düne und wartete auf den Einbruch der Nacht. Als er den Kopf nach rechts drehte, sah er ein menschliches Skelett, das die gleiche Haltung einnahm wie er selbst. Links lag ein zweites, und Cugel schauderte. Wind und Wetter hatten die Knochen bereits verwittern lassen. Einige Meter entfernt ragten weitere Gebeine aus dem Sand.
Cugel sprang auf und eilte zu den Pilgern. »Geschwind!« rief er. »Fort von hier, solange wir noch die Kraft dazu haben! Nach Süden! Kommt, bevor wir sterben, so wie die, deren Knochen in den Dünen liegen!«
»Ja, ja«, brummte Garstang. »Zum Tempel!« Und er stand auf. »Los!« rief er seinen Gefährten zu. »Nach Süden!«
Subucule richtete sich auf. Casmyre stemmte sich ebenfalls in die Höhe, ächzte aber und sank in den Sand zurück. »Ich bleibe hier«, sagte er. »Wenn ihr den Tempel erreicht, so haltet Fürsprache für mich. Erklärt Gilfig, daß der Zauber der Geisterstadt stärker war als mein Leib.«
Garstang bat die Pilger darum, auf seine Begleitung zu verzichten. Er wolle hier beten, meinte er. Doch Cugel deutete auf die untergehende Sonne. »Wenn wir bis zur Nacht warten, sind wir verloren! Morgen haben wir nicht mehr die Kraft, uns aus dem Bann zu befreien!«
Subucule griff nach dem Arm Garstangs. »Wir müssen fort, bevor es dunkel geworden ist.«
Garstang wandte sich noch ein letztesmal an Casmyre. »Freund und Gefährte, besinn dich auf deine letzten Kräfte. Zusammen haben wir das Pholgustal verlassen, sind mit dem Floß über den Scamanderstrom gereist und durch die schreckliche Silberne Wüste gezogen! Sollen wir uns denn jetzt trennen, bevor wir den Tempel finden?«
»Komm, zum Tempel!« krächzte Cugel.
Aber Casmyre ließ nur den Kopf hängen. Cugel und Subucule führten Garstang fort, über dessen schorfige Wangen Tränen strömten. Sie stolperten über den Strand und wankten nach Süden, wagten es dabei nicht, übers Meer zu blicken.
Die Sonne ging unter, und der Horizont glühte in einem kastanienbraunen Schein. Einige Wolkenfetzen schimmerten in einem strohgelben Ton am seltsam bronzefarbenen Firmament. Kurz darauf erschien die Stadt, und sie war noch wundervoller als zuvor. An den Turmspitzen glitzerte und gleißte der letzte Schein der Sonne. Über die Promenaden wanderten junge Männer und Frauen mit Blumen im Haar, und manchmal blieben sie stehen, um die drei Wanderer auf dem Strand zu beobachten. Die Nacht begann, und weißes Funkeln erstrahlte in der Stadt. Musik wehte über den Ozean. Lange Zeit folgten die Melodien den drei Reisenden, doch schließlich verklangen sie in der Ferne. Flach erstreckte sich das Meer bis hin zum westlichen Horizont, und nur hier und dort war noch ein letztes bernsteinfarbenes Schimmern zu sehen.
Etwa zu dieser Zeit fanden die Pilger einen Bach, in dem frisches Süßwasser floß. An seinen Ufern wuchsen Beeren und wilde Pflaumen. An dieser Stelle schlugen Cugel und seine Begleiter ihr Lager auf. Am nächsten Morgen fing Cugel einen Fisch und sammelte Krabben. Gestärkt setzten die drei Männer ihren Weg nach Süden fort, und immer wieder hielten sie dabei nach dem Tempel Ausschau. Inzwischen glaubte Cugel fast ebenfalls an die Existenz jener heiligen Stätte – so fest war die Überzeugung Garstangs und Subucules. Aber nach einigen Tagen war es der fromme Subucule, der zu verzweifeln begann und sich laut fragte, ob sie die Worte Gilfigs richtig interpretiert hatten. Er wagte es sogar, die Tugendhaftigkeit des Gottes zur Diskussion zu stellen. »Was hat diese beschwerliche Wallfahrt denn überhaupt für einen Sinn? Hegt Gilfig Zweifel an unserem Glauben? Wir haben ihn doch bewiesen, indem wir an den Weiheriten teilnahmen. Warum hat er uns in die Ferne geschickt?«
»Die Wege Gilfigs sind unerfindlich«, sagte Garstang. »Wir sind weit gereist. Wir müssen uns seinem Gebot fügen und den Tempel suchen!«
Subucule blieb jählings stehen und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Ich mache euch folgenden Vorschlag: Laßt uns hier einen Altar aus Steinen errichten. Das soll unser Tempel sein. Wir beten und erfüllen damit unsere Pflicht Gilfig gegenüber, und anschließend können wir nach Norden zurückkehren, in das Dorf, in dem unsere Gefährten wohnen. Bestimmt finden wir dort die Packtiere wieder. Wir füllen die Taschen mit neuen Vorräten, reisen durch die Silberne Wüste zurück und treffen vielleicht wieder in Erze Damath ein.«
Garstang zögerte: »Vieles spricht für deinen Vorschlag. Und doch…«
»Ein Boot!« rief Cugel. Er deutete aufs Meer: Etwa eine halbe Meile vor der Küste war ein Fischerboot zu erkennen, und an seinem Mast hing ein quadratisches Segel. Es verschwand hinter einer Landzunge, die etwa eine Meile von den Pilgern entfernt sein mochte, und Cugel glaubte nun auch, ein Dorf auszumachen.
»Ausgezeichnet!« bemerkte Garstang. »Möglicherweise handelt es sich bei jenen Leuten um freundliche Gilfigiten, und in ihrem Dorf könnten wir endlich den Tempel finden! Laßt uns weitermarschieren!«
Subucule jedoch schien skeptisch zu sein. »Wäre es denn denkbar, daß selbst in diesem fernen Lande die heiligen Texte bekannt sind?«
»Das Kennwort heißt Vorsicht«, warf Cugel ein. »Wir müssen die Lage mit aller Wachsamkeit erkunden.« Er führte seine Gefährten durch einen Wald aus Tamarisken und Lärchen, und nach einer Weile erreichten sie eine Stelle, von der aus sie das Dorf beobachten konnten. Die Hütten bestanden aus schwarzem Stein, und sie dienten ziemlich wild aussehenden Leuten als Heimstatt. Die runden Gesichter waren lehmfarben, und das dichte schwarze Haar auf den Köpfen schien die Konsistenz von Stacheln zu haben. Auf den Schultern wuchsen epaulettenartige breite Büschel. Sowohl die männlichen als auch weiblichen Wesen waren mit langen Reißzähnen ausgestattet und verständigten sich mit knurrenden, grollenden Lauten. Cugel, Garstang und Subucule ließen äußerste Vorsicht walten, wichen zurück, versteckten sich im Wald und berieten sich flüsternd.
Garstang war entmutigt und hatte jede Hoffnung verloren. »Ich bin erschöpft – körperlich ebenso wie geistig und seelisch. Vielleicht ist es mir bestimmt, an diesem Ort zu sterben.«
Subucule blickte nach Norden. »Ich glaube, ich versuche es mit der Silbernen Wüste. Wenn alles gutgeht, schaffe ich es vielleicht zurück bis nach Erze Damath, vielleicht sogar bis ins Pholgustal.«
Garstang wandte sich an Cugel. »Vom Tempel Gilfigs ist weit und breit nichts zu sehen. Was hast du vor?«
Cugel deutete auf einen Kai, an dem mehrere Boote dümpelten. »Mein Ziel ist Almery, jenseits des Songanmeeres. Ich spiele mit dem Gedanken, mir ein Boot zu besorgen und nach Westen zu segeln.«
»Dann trennen sich hier unsere Wege«, meinte Subucule. »Garstang, begleitest du mich?«
Garstang schüttelte den Kopf. »Die Reise ist zu weit. Und den Marsch durch die Wüste würde ich gewiß nicht überleben. Ich überquere mit Cugel das Meer und bringe dem Volk Almerys die heilige Botschaft Gilfigs.«
»So lebt beide wohl!« sagte Subucule. Rasch wandte er sich ab, um den beiden Freunden nicht zu zeigen, wie sehr ihn der Abschied bewegte, und er wanderte nach Norden.
Cugel und Garstang sahen ihm nach, bis er in der Ferne außer Sicht geriet. Dann drehten sie sich um und beobachteten den Kai. Garstang wirkte sehr nachdenklich. »Die Boote scheinen zwar seetüchtig zu sein, aber das ›Besorgen‹ bedeutet wohl nichts anders als ›Stehlen‹. Und so etwas stößt auf die besondere Mißbilligung Gilfigs.«
»Nun, dieses Problem läßt sich leicht lösen«, sagte Cugel. »Ich lasse einige Goldmünzen auf der Mole zurück – eine Summe, die dem Wert des Bootes entspricht.«
Garstang nickte zögernd. »Und was ist mit Lebensmitteln und Wasser?«
»Nachdem wir uns das Boot beschafft haben, segeln wir an der Küste entlang, bis wir eine Möglichkeit finden, Vorräte an Bord zu nehmen. Anschließend wenden wir uns nach Westen.« Diesem Vorschlag stimmte Garstang zu, und sie machten sich beide daran, die Boote zu betrachten und miteinander zu vergleichen. Schließlich entschieden sie sich für ein zuverlässig wirkendes Gefährt, das zehn oder zwölf Schritte
lang sein mochte und sowohl einen einzelnen Mast als auch eine kleine Kabine aufwies.
Im Zwielicht der Abenddämmerung brachen sie auf und schlichen an den Kai. Nichts rührte sich dort: Die Fischer waren ins Dorf zurückgekehrt. Garstang ging an Bord und meinte, es sei alles in bester Ordnung. Cugel machte sich gerade daran, die Leinen zu lösen, als vom Ende des Kais her ein heiserer Schrei ertönte. Unmittelbar darauf stürmte ein Dutzend der stämmigen Dorfbewohner in Richtung der Mole.
»Wir sind verloren!« rief Cugel. »Lauf um dein Leben. Besser noch: schwimm!«
»Unmöglich«, erwiderte Garstang. »Wenn ich hier sterben soll, so werde ich dem Tod mit all der Würde begegnen, zu der ich fähig bin!« Und mit diesen Worten kletterte er auf den Kai.
Auch andere wurden auf den Lärm aufmerksam, und innerhalb kurzer Zeit waren Cugel und Garstang von vielen Leuten unterschiedlichen Alters umringt. Einer von ihnen, der Älteste des Dorfes, fragte mit streng klingender Stimme: »Warum schleicht ihr auf unserem Kai herum und versucht, ein Boot zu stehlen?«
»Unsere Beweggründe sind eigentlich ganz einfach«, entgegnete Cugel. »Wir möchten das Meer überqueren.«
»Was?« donnerte der Älteste. »Wie soll das denn möglich sein? Es befinden sich weder Nahrungsmittel noch Wasservorräte an Bord, und für eine so weite Reise ist das Boot nicht angemessen ausgerüstet. Warum habt ihr euch nicht an uns gewandt, um euer Anliegen vorzutragen?«
Cugel zwinkerte, wechselte einen raschen Blick mit Garstang und zuckte mit den Schultern. »Ich will ehrlich sein: Aufgrund eures Erscheinungsbildes hielten wir es für angeraten, vorsichtig zu sein.«
Diese Bemerkung rief Überraschung und Erheiterung bei den Dorfbewohnern hervor. Der Älteste sagte: »Wir sind alle verwirrt. Bitte erklär uns, was du damit meinst.«
»Nun gut«, antwortete Cugel. »Darf ich ganz offen sprechen?«
»Selbstverständlich!«
»Gewisse Aspekte eures Aussehens deuteten wir als Hinweise auf eine wilde und barbarische Natur: die langen Reißzähne, die schwarze Mähne, eure lauten und knurrenden Stimmen – um nur einige Beispiele zu nennen.«
Die Dorfbewohner lachten ungläubig. »Was für ein Unsinn!« riefen sie. »Unsere Zähne sind deshalb so lang, damit wir die dicken und zähen Fische zerreißen können, von denen wir uns ernähren. Und das Haar tragen wir so lang, um vor gewissen und ziemlich lästigen Insekten geschützt zu sein. Und da wir alle ziemlich schlecht hören können, neigen wir dazu, zu schreien. Im Grunde genommen sind wir sanftmütige und sehr freundliche Leute.«
»Genau«, bestätigte der Älteste. »Und um euch das zu beweisen, rüsten wir morgen unser bestes Boot aus und schicken euch mit unseren guten Wünschen auf die Reise. Heute abend veranstalten wir ein Fest zu euren Ehren!«
»Dies ist ein wahrhaft heiliges und frommes Volk«, erklärte Garstang. »Ihr seid nicht zufällig Verehrer Gilfigs?«
»Nein. Wir huldigen dem Fischgott Yob, der ebenso mächtig zu sein scheint wie die anderen Gottheiten. Doch kommt: Gehen wir ins Dorf. Wir müssen Vorbereitungen für das Fest treffen!«
Ihr Weg führte über Stufen, die in den Fels der Klippen gehauen waren, und erhellt wurde der Pfad von vielen Fackeln. Der Älteste deutete auf die größte aller Hütten. »Das soll euer Quartier für diese Nacht sein. Ich schlafe woanders.«
Erneut sah sich Garstang veranlaßt, die Zuvorkommenheit des Fischervolkes in höchsten Tönen zu loben, woraufhin der Älteste den Kopf neigte. »Unser Bestreben ist es, eine geistliche Einheit zu erreichen. Und wir symbolisieren dieses Ideal mit dem Hauptgang des Festmahls.« Er drehte sich um und klatschte. »Ans Werk!«
Ein großer Kessel wurde an ein dreibeiniges Gestell gehängt, und kurz darauf brachte man einen Holzblock und ein großes Hackmesser herbei. Im Anschluß daran bezogen die Dorfbewohner Aufstellung, gingen nacheinander an dem Block vorbei, schnitten sich jeweils einen Finger ab und warfen ihn in den Kessel.
Der Älteste erklärte: »Durch dieses einfache Ritual, an dem ihr natürlich teilnehmen sollt, demonstrieren wir sowohl unsere gemeinsame Abstammung als auch unsere gegenseitige Abhängigkeit. Kommt, gesellen wir uns den anderen hinzu.« Und es blieb Cugel und Garstang keine andere Wahl, als sich einen Finger abzuhacken und in den großen Topf zu werfen.
Das Fest dauerte bis tief in die Nacht. Und am nächsten Morgen hielten die Dorfbewohner ihr Wort. Ein besonders seetüchtiges Boot wurde ausgerüstet und mit Vorräten beladen, zu denen auch einige der Speisen gehörten, die von der Mahlzeit am vergangenen Abend übriggeblieben waren.
Dann versammelte sich das Fischervolk am Kai. Cugel und Garstang hielten dankende Ansprachen, und während Cugel das Segel setzte, machte sein Gefährte die Leinen los. Die Brise blähte das große Leinentuch auf, und das Boot glitt fort von der Mole. Es dauerte nicht lange, und die Küste war nur noch als eine vage Linie am Horizont zu sehen. Überall schimmerte dunkles Wasser, einem schier unendlichen Spiegel aus glänzendem Metall gleich.
Die Stunden verstrichen, und es wurde Mittag. Das Boot trieb durch den Kosmos der Elemente: unten Wasser, oben Luft.
Und ewige Stille. Der Nachmittag war lang und ereignislos, so unwirklich wie ein Traum. Und der melancholischen Pracht des Sonnenuntergangs folgte eine Dämmerung in der Farbe gestreckten Weins.
Der Wind frischte auf, und die ganze Nacht über segelten sie nach Westen. Beim Morgengrauen flaute die Brise ab, und schlaff hing das Segel am Mast. Cugel und Garstang nutzten die Gelegenheit, um zu schlafen.
Achtmal wiederholte sich dieser Zyklus. Am Morgen des neunten Tages machten sie im Westen eine dünne Küstenlinie aus. Am späten Nachmittag erreichten sie einen breiten weißen Strand. »Ist dies hier das Land Almery?« fragte Garstang.
»Ich glaube schon«, erwiderte Cugel. »Doch ich weiß nicht genau, mit welcher Region wir es zu tun haben. Vielleicht liegt Azenomei im Norden, möglicherweise aber auch im Westen oder Süden. Wenn der Wald dort drüben die Grenze des östlichen Almery darstellt, so sollten wir uns davon fernhalten, denn er hält viele Gefahren bereit.«
Garstang deutete auf die Küste. »Sieh nur – ein weiteres Dorf. Wenn die Leute hier ebenso freundlich sind wie die Fischer, die uns das Boot gaben, so helfen sie uns bestimmt weiter. Komm, tragen wir ihnen unser Anliegen vor!«
Cugel zögerte. »Vielleicht wäre es klüger, auch in diesem Fall Vorsicht walten zu lassen.«
»Welchen Sinn hätte das?« fragte Garstang. »Beim letztenmal führte das nur zu Mißverständnissen und Verwirrung.« Und er ging über den Strand auf das Dorf zu. Cugel schloß sich ihm widerstrebend an, und als sie sich der Siedlung näherten, bemerkten sie Dutzende von Gestalten, die über den großen Platz in der Mitte des Dorfes wandelten: elegant aussehende Leute mit blondem Haar. Sie unterhielten sich mit Stimmen, deren Klang einer sanften Melodie ähnelte.
Garstang schritt fröhlich aus und rechnete damit, noch freundlicher empfangen zu werden als bei den Fischern. Doch die blonden Männer und Frauen stürmten auf sie zu und fingen sie in Netzen. »Was soll das bedeuten?« rief Garstang. »Wir sind Fremde und hegen keine feindlichen Absichten.«
»Ihr seid Fremde, in der Tat«, bestätigte ein besonders großer Dorfbewohner. »Wir verehren jene unerbittliche Heiligkeit, die Dangott genannt wird. Fremde gelten sofort als Ketzer und werden den geweihten Affen zum Fraß vorgeworfen.« Im Anschluß an diese Worte wurden Cugel und Garstang über die scharfkantigen Steine der Klippen gezerrt, und rechts und links von ihnen tanzten lachende und singende Kinder.
Es gelang Cugel, das Rohr zur Hand zu nehmen, das aus dem Besitz Voynods stammte, und er schleuderte den Dorfbewohnern blaues Konzentrat entgegen. Entsetzt sanken sie zu Boden, und Cugel schlüpfte aus dem Netz. Sofort zog er sein Schwert und sprang vor, um Garstang zu befreien, doch in diesem Augenblick erholten sich die blonden Männer und Frauen von ihrem Schrecken und gingen zum Angriff über. Erneut richtete Cugel das Rohr auf sie, und die Anhänger Dangotts ergriffen schreiend die Flucht.
»Lauf, Cugel!« rief Garstang. »Ich bin ein alter Mann und habe nicht mehr genug Kraft. Nimm die Beine in die Hand. Bring dich in Sicherheit. Meine guten Wünsche begleiten dich.«
»Normalerweise würde ich deinen Rat sofort beherzigen«, gestand Cugel ein. »Doch jene Leute dort haben mich so zornig gemacht, daß ich geradezu übergeschnappt bin und nicht mehr in erster Linie an mein eigenes Wohl denke. Kriech also aus dem Netz, damit wir uns zusammen auf und davon machen können.« Erneut verbreitete er mit dem blauen Konzentrat Angst und Schrecken, und Garstang nutzte die Gelegenheit, um sich unter dem Netz hervorzuschieben. Anschließend flohen sie beide über den Strand.
Die Dorfbewohner bewaffneten sich mit Lanzen und folgten ihnen. Einer der Speere bohrte sich in den Rücken Garstangs und tötete ihn auf der Stelle. Cugel wirbelte um die eigene Achse und zielte mit dem Rohr, doch der Zauber jenes magischen Instruments hatte sich erschöpft: Nur dünner blauer Rauch stieg in die Höhe. Die aufgebrachten Anhänger Dangotts machten Anstalten, weitere Lanzen zu werfen. Cugel fluchte, wich zur Seite aus und duckte sich – und die Speere flogen über ihn hinweg und fielen in den Sand.
Cugel schüttelte noch einmal wütend die Faust, und dann eilte er davon und floh in den Wald.
Originaltitel: »The Pilgrims« Copyright © 1966 by Mercury Press, Inc. (in »The Magazine of Fantasy and Science Fiction«, Juni 1966) Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst